Leseprobe aus „RE-GENERATION – Neues Leben“
Hier im Blogpost gibt es eine Leseprobe aus meiner neuen Dystopie „RE-GENERATION – Neues Leben“.
Worum geht’s?
Die Medizinstudentin Sibel Abebe lebt in einer Zeit, in der Unsterblichkeit kein utopischer Traum mehr ist – die RE-GENERATION-Behandlung macht es möglich. In modernen Mega-Städten im Untergrund lebt die Menschheit in Sicherheit vor Klimaextremen. Wegen drohender Überbevölkerung werden die Familienplanung allerdings staatlich kontrolliert und Verstöße hart bestraft. Als eine schwangere Freundin sie um Hilfe bittet, gerät Sibel selbst in Schwierigkeiten. Von einem Moment auf den anderen ist sie abhängig vom Schutz der Untergrundorganisation NATURAL LIFE und des schweigsamen Jonah Black. Je tiefer Sibel eintaucht in die Welt der Rebellen, desto drängender muss sie sich entscheiden: Wie weit will sie gehen für den Kampf für ein Zurück zur Natur? Und kann sie Jonah, den sie immer mehr ins Herz schließt, überhaupt vertrauen?
Tipp: In meinem Blog findet ihr 10 Fakten über meine Dystopie „RE-GENERATION – Neues Leben“.
Leseprobe aus „RE-GENERATION – Neues Leben“
Prolog
Ihre Fingerkuppe schwebte über dem »Senden«-Button. Sie holte tief Luft und las ihren Text erneut: »Ich komme heute nicht mehr nach Hause. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich hab dich lieb!« Der erste Satz war ein unumstößliches Faktum, der zweite eine glatte Lüge, der dritte die reine Wahrheit.
Als ihr Finger zu zittern begann, legte sie die Hand unverrichteter Dinge flach auf die Tischplatte vor sich. Sie durfte keinen Text senden, es brächte sie nur noch mehr in Gefahr! Wie hatte ihre Welt nur von einer Minute auf die andere zusammenfallen können? Sie war sich ihrer Sache zu sicher gewesen, hatte die Situation falsch eingeschätzt. Ihre Augen brannten, ihr Atem ging schwer. Aber es gab keine Alternative, ein anderer Weg war für sie nie in Frage gekommen.
Der Laut, der aus ihrer Kehle hochkroch, ließ sie aus ihrer Erstarrung aufschrecken. Er erinnerte sie auf befremdliche Weise an das Kreischen einer aus voller Fahrt bremsenden Bahn. Diese Bahn war sie. Ihr Leben stand plötzlich still.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen: »Ich komme heute nicht mehr nach Hause. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Ich hab dich lieb!« Sie hob die bebende Hand. Dann tippte sie auf »Löschen«.
Kapitel 1
Sibel wartete seit über zehn Minuten an dem vereinbarten Tisch im Ali-Baba auf Larissa. Immer wieder strich sie über die beinahe herzförmigen Blätter des arabischen Jasmins, der in einem Topf auf dem Fensterbrett wuchs. Der Duft der weißen Blüten füllte den ganzen Raum.
Mit einem routinierten Blick scannte Sibel das Studentencafé nach ihrer Studienfreundin. Das Ali-Baba befand sich im zehnten Stock eines bunt bemalten Hochhauses, direkt unter der Erdoberfläche. Obwohl es auch einen großzügigen, gläsernen Balkonbereich gab, hatte Sibel drinnen einen Platz gewählt – einfach, weil sie hier ungestörter arbeiten konnten.
Sie nahm einen großen Schluck Minztee und widmete sich erneut dem Text. Ihre Ausarbeitungen für die gemeinsame Hausarbeit in Medizingeschichte bedeckten die gesamte Displayfläche des Tisches. Ungeduldig wippte Sibel mit dem Fuß auf und ab. Ihr Kleid reichte ihr bis an die Knie und ihre braune Haut bildete einen warmen Kontrast zu dem senfgelben Stoff. Sie liebte diese Farbe, die so viel Zuversicht ausstrahlte!
Zum gefühlt zehnten Mal strich Sibel sich die schwarzen Locken aus der Stirn. An Larissas Unpünktlichkeit war sie zwar gewöhnt, doch heute mussten sie unbedingt diesen Aufsatz über die Firma Jey Sand Inc. und ihre weltverändernde Erfindung RE-GENERATION beenden.
Wieder sah sie zur Tür. Endlich stöckelte Larissa in den orientalisch geschmückten Innenraum und zog sofort den Blick des Kellners auf sich. Sibel kannte keinen anderen Menschen, der seine teure Handtasche mit einer so legeren und gleichzeitig so fließend-sinnlichen Bewegung ablegte. Wie ein wertvoller Seidenschal glitt Larissa auf den freien Stuhl neben ihr und überkreuzte die langen Beine. Heute wirkte die sonst so selbstsichere Studentin beinahe nervös, als sie mit hoher Stimme einen Smoothie bestellte. Dann beugte sie sich über die Aufzeichnungen, die vor ihnen auf dem Tisch aufleuchteten. Mit ihrem makellos manikürten Zeigefinger wischte sie in fließenden Bewegungen durch die Seiten, dabei nickte sie.
»Sieht doch gut aus«, kommentierte sie mit einem verspannten Lächeln. »Wir müssen nur noch ein paar passende, abschließende Worte finden und voilà – 200 Jahre Firmengeschichte könnten nicht schöner zusammengefasst worden sein!«
»Dank Calvin und seinem Zugriff auf das Firmenarchiv«, ergänzte Sibel. Denn Larissas Freund arbeitete in der Marketingabteilung des Megakonzerns und hatte seine Partnerin für diese wichtige Hausarbeit mit exklusiven Informationsquellen versorgt. Einiges davon war auch für Sibel neu, obwohl sie sich aus familiären Gründen schon früher mit den verheerenden Forschungen von Jey Sand beschäftigt hatte.
»Auf Calvin«, prostete Larissa ihr zu. »Den besten Mann meines Lebens!«
Ihr Lächeln wirkte auf Sibel bedrückt, da sie die adrette Blondine sonst nur gut gelaunt kannte. Larissa war die einzige ihrer Kommilitoninnen im Medizinstudium, die sie als Freundin bezeichnen würde. Im Gegensatz zu den anderen, die Sibel wegen ihrer 24 Jahre wie ein Kind behandelten, machte Larissa keinen Unterschied. Sie sah sich nicht als etwas Besseres, nur weil sie 38 Jahre mehr Lebenserfahrung vorweisen konnte. Anfangs hatte Sibel ihr wegen ihres makellosen Äußeren Oberflächlichkeit unterstellt, doch Larissa hatte sie eines Besseren belehrt. Wer neben dem Studium ein erfolgreiches Mode-Label leitete, musste vermutlich so selbstsicher und glattpoliert auftreten, um Neidern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Mittlerweile empfand Sibel Bewunderung für die elegante, immer perfekt frisierte Frau. Sie hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten ein so immenses Vermögen erarbeitet, dass sie frei und unabhängig entscheiden konnte. Das Studium stellte für sie reinen Zeitvertreib dar.
Für Sibel aber war es die erste Ausbildung und sie wollte damit in die Fußstapfen ihrer Mutter treten, obwohl diese inzwischen nicht mehr praktizieren durfte. Genau genommen, seit Sibels Geburt. Wie jedes Mal löste der Gedanke Zorn in ihr aus, erinnerte sie aber gleichzeitig an den Grund des Treffens: Die Hausarbeit über Jey Sand, die Firma, mit deren Geschichte auch ihre eigene und die ihrer Mutter untrennbar verbunden war. Wäre Jey Sands Wundermittel RE-GENERATION nicht gewesen, hätte Ayana Abebe ihre Lizenz als Ärztin nie verloren.
»Ich diktiere einfach mal«, sagte Larissa jetzt in entschlossenem Tonfall. Diese Effektivität bewunderte Sibel an ihr. Nie schob sie etwas lange vor sich her, sondern erledigte es sorgfältig und schnell.
»Du kannst hinterher ja noch Änderungen einfügen, Sibel«, sagte Larissa jetzt und begann ihr Diktat: »Scriba, schreib: Resümee – Umbruch – Jey Sand Inc. investierte nicht als erster Konzern in Forschungen zur Heilung der Krankheit des Alterns – Punkt. Doch den hochkarätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Jey Sand Inc. gelang 2058 erstmals ein bahnbrechender Durchbruch auf diesem Gebiet – Punkt. Treibende Kraft dahinter war der Firmengründer – Komma – der Amerikaner Jeremy Sand – Komma – der das Forschungsprojekt inhaltlich anregte und mit den Gewinnen aus seinem Sport-Firmenimperium finanzierte – Punkt.«
An dieser Stelle hielt Larissa inne und fügte ein Foto von Jeremy Sand in den Text ein. Darauf schaute der Multimilliardär mit forschem Blick in die Kamera. Sibel würde ihn mit seinem gekräuselten Vollbart und der sportlich-trainierten Nacken- und Schulterpartie überall wiedererkennen. Im Netz gab es Millionen Fotos von ihm, die ihn alle aus vorteilhaften Winkeln zeigten.
Larissa räusperte sich, um mit ihrem Diktat fortzufahren. Sie wirkte, als wolle sie ihr heutiges Treffen zügig hinter sich bringen. Der Gedanke versetzte Sibel einen Stich, denn sie hatte sich auf die gemeinsame Zeit gefreut.
»Scriba, schreib: Den ausschlaggebenden Forschungserfolg verdankte Jey Sand Inc. dem wissenschaftlichen Leiter des Projekts – Komma – dem schwedischen Biologen Erik Thelin – Komma – der mit RE-GENERATION eine praktikable Behandlung zur Zellverjüngung auf den Weg brachte – Punkt. Bis zur Marktreife sollte es zwar noch bis 2122 dauern – Punkt. Die ersten Menschen – Komma – die von diesem technologischen Fortschritt profitierten – Komma – waren Jeremy Sand und sein Forschungsteam – Punkt. Heute verfügt die Firma über das offizielle Monopol für zellverjüngende Verfahren – Punkt. Die Ausgabe zu einem erschwinglichen Preis und die medizinisch korrekte Anwendung überwacht das Gesundheitsministerium – Punkt.«
Larissa überflog das Geschriebene, dann hob sie eine Augenbraue. »Und jetzt hab ich noch eine Überraschung für dich.«
Sie fügte ein weiteres Foto in den Text ein: Das Porträt eines Mannes mit langen, strohblonden Haaren, die er zu einem Knoten gebunden hatte. Auch er trug einen sorgfältig gestutzten Bart. Auffällig an ihm waren die leuchtend blauen Augen und das Muttermal über der rechten Braue. Er besaß schöne, aber sehr ernsthafte Gesichtszüge.
»Wer ist das?«, fragte Sibel.
Larissa blinzelte übertrieben mit ihren verlängerten Wimpern. »Na wer wohl? Der Mann, von dem es im Netz keine Fotos gibt.«
»Erik Thelin?«, hakte Sibel nach. Augenblicklich fühlte sie sich hellwach. Sie beugte sich vor, um das Bild noch genauer zu betrachten. Jetzt, wo sie wusste, wen es zeigte, fand sie es abstoßend. Diese steil aufeinander zulaufenden Brauen, der superstrenge Gesichtsausdruck, die leicht nach unten gezogenen Mundwinkel! So sah also der Mann aus, der so etwas Desaströses wie die RE-GENERATION-Behandlung erfunden hatte. Auf ihren Unterarmen sträubten sich die feinen Härchen. Es gab niemanden, für den sie so viel Abneigung empfand – außer natürlich für seinen Boss, Jeremy Sand. Doch das würde sie nie öffentlich zugeben.
»Calvin hat es im Archiv von Jey Sand gefunden. Er sagt, immer, wenn sie Fotos von Erik Thelin ins Public Net stellen, verschwinden sie innerhalb weniger Stunden. Verrückt, nicht wahr? Deswegen existieren nur solche, auf denen man ihn kaum erkennen kann. Dieses hier wird uns in der Arbeit Pluspunkte bringen.« Sie lächelte selbstzufrieden, bevor sie das Resümee weiterschrieb.
»Scriba, schreib: Wie mit jedem Fortschritt folgten auch diesmal neue Herausforderungen – Komma – wie beispielsweise die zwingende Notwendigkeit der Regulierung der Geburtenzahl – Punkt. Für diesen Zweck entwarf Erik Thelin im Auftrag von Jey Sand Inc. für die Weltregierung vor dreißig Jahren den Algorithmus Fair Future – Komma – der den Anspruch auf Nachwuchs gerecht verteilen sollte – Punkt. Allerdings manipulierte Thelin die künstliche Intelligenz so – Komma – dass bestimmte Bevölkerungsschichten mehr profitierten als andere – Punkt. In der Folge verließ Erik Thelin die Firma und Jey Sand Inc. lancierte den überarbeiteten Algorithmus Fair Future 2 …«
»Sollten wir nicht erwähnen, dass Thelin zwar für schuldig befunden wurde, seiner Strafe aber durch Flucht entgangen ist?«, unterbrach Sibel Larissas Diktat.
Doch die schüttelte entschieden den Kopf. »Das führt im Resümee zu weit. Außerdem ist er tatsächlich rechtmäßig verurteilt. Sein gesamtes Vermögen wurde beschlagnahmt. Höchstwahrscheinlich ist er nicht mehr am Leben«, erklärte Larissa in bestimmtem Tonfall. Sibel gönnte einem Mann wie Erik Thelin ein solches Schicksal von Herzen.
Larissa nutzte die Unterbrechung, um in ihrem Smoothie zu rühren, bevor sie einen großen Schluck davon trank. Mit einem Mal spürte Sibel den Blick ihrer Freundin auf sich. Täuschte sie sich oder wirkte Larissa unruhig? Jetzt betrachtete sie zumindest eingehend ihre lackierten Fingernägel.
»Ich weiß, du magst Jey Sand nicht sonderlich …«, sagte Larissa und dämpfte ihre Stimme, obwohl sich an diesem Nachmittag außer ihnen niemand anderes im Innenbereich des Ali-Baba aufhielt.
Sibel hob abwartend die Schultern. Was sollte sie schon darauf antworten? Larissas Lebensgefährte arbeitete seit Jahren für den machtvollen Konzern. Auch so hielt man sich mit offen kritischen Äußerungen über Jey Sand besser zurück, denn schnell wurde man mit diversen Untergrundorganisationen in Verbindung gebracht. Sibel konnte mit Larissa alles bereden, aber dieses Thema mied sie trotzdem. Wahrscheinlich lag auch das an ihrer Familiengeschichte.
»Ich verurteile sie nicht für ihre Forschungen«, log sie schließlich und trank schnell ihren Tee aus. Larissa beobachtete sie aufmerksam, bevor sie erneut ihre Nägel begutachtete.
»Das hier fällt mir nicht leicht«, flüsterte sie und gewann damit Sibels volle Aufmerksamkeit. »Ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«
»Was ist passiert?«, hakte Sibel nach, als Larissa, statt weiter zu sprechen, wie hypnotisiert auf ihre langen, weißen Finger starrte. Instinktiv nahm Sibel Larissas Hand.
Nach einigen Sekunden hob ihre Freundin den Kopf, um sich sorgfältig umzuschauen. Dann legte sie ihre smarte Brille auf den Tisch und deaktivierte anschließend mit ein paar Klicks auf ihrem Smartphone den Free-Comm-Chip an ihrem Ohr. Sie bedeutete Sibel, ihren Chip, der Headset, Übersetzer und Aufnahmegerät in einem war, ebenfalls auszuschalten. Zuletzt drehte Larissa laute Musik auf. Erst danach beugte sie sich zu Sibel herüber, bis sie ihr direkt ins Ohr sprechen konnte – als wären sie Protagonistinnen in einem Krimi, die ungewollten Lauschern entgehen mussten.
»Ich bin schwanger, Sibel! Calvin hat noch keine Ahnung und ich wage nicht, es ihm zu sagen. Du weißt, er hat bereits ein längst erwachsenes Kind, genau wie ich. Wir bekämen von Fair Future so schnell keine Erlaubnis für gemeinsamen Nachwuchs, obwohl wir uns natürlich schon vor Jahren darum beworben haben. Auf der Warteliste rangieren wir ganz unten.«
Sie holte tief Luft und blieb dann einen Moment lang still. Währenddessen dröhnte die Musik so laut in Sibels Ohren, dass die ungeheuerliche Information nur langsam in ihr Bewusstsein vordrang.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, beim bloßen Gedanken an eine Abtreibung wird mir schlecht!«
Wie um die Verzweiflung, die in ihrer Stimme lag, zu unterstreichen, weiteten sich Larissas Pupillen. Als Sibel noch immer schwieg, strich sie mit übertriebener Sorgfalt ihr Kostüm glatt. »Ich weiß nicht, wem ich mich sonst anvertrauen soll. Sibel, du …«
»Keine Sorge, ich verrate nichts«, beeilte sich Sibel zu sagen, während sie angestrengt überlegte. Jeder Gedanke an die gemeinsame Hausarbeit war vergessen.
»Aber wie konnte das denn passieren?«, platzte sie heraus. Normalerweise unterhielten Larissa und sie sich nicht über so private Dinge. »Dein Gesundheitschip zeigt dir doch jederzeit in deinem Public Net-Account an, ob du deine fruchtbaren Tage hast und verhüten musst.«
Sie dachte an die Zeit mit ihrem Ex-Freund Connor, in der sie routiniert auf diese Benachrichtigungen geachtet hatte. Für welche Verhütungsmethode man sich dann für die kurze Zeit entschied, war einem selbst überlassen. Man könnte auch die noch bequemere Lösung wählen und einfach permanent hormonfrei verhüten.
Aber eins war klar: Wenn Larissa die unerlaubte Schwangerschaft jetzt nicht sofort abtriebe, erhielte sie dafür die Höchststrafe, nämlich lebenslanges Verbot der RE-GENERATION-Behandlung. Dadurch würde ihr Körper altern, so wie es vor der Erfindung der Zellverjüngung der Fall gewesen war, und Larissas Lebensspanne würde sich unaufhaltsam verkürzen. Das beinahe Schlimmste daran wäre das Stigma, das kannte Sibel von ihrer Mutter nur allzu gut. Denn wer sah heutzutage schon alt aus? Nur sehr, sehr arme Menschen, Verbrecher, Rebellen und Eigenbrötler.
Mitfühlend streichelte Sibel Larissas ruhelose Finger. Kein Wunder, dass ihre Freundin heute so aufgekratzt wirkte! Auch Sibels Herz schlug jetzt schnell und unregelmäßig. Die plötzliche Last, die mit dem neuen Wissen auf ihre Brust drückte, wurde einen Moment lang übermächtig. Machte sie sich als Mitwisserin bereits strafbar? Gleichzeitig freute sie das Vertrauen, das Larissa ihr entgegenbrachte.
»Wie lange weißt du es schon?«, flüsterte Sibel schließlich über das Dröhnen der Musik hinweg in Larissas Ohr.
»Seit ein paar Tagen«, erwiderte die kaum hörbar. »Die Toiletten-KI hat mich benachrichtigt. – Was bin ich froh, dass die Regierung sich damals auf einen strengen Schutz der Privatsphäre einigen konnte, sonst wäre das Testergebnis direkt an meinen Hausarzt gegangen.«
In Gedanken ging Sibel Larissas Optionen durch. Ewig würde sie eine Schwangerschaft trotz Datenschutz nicht geheim halten können. In den Nachrichten gab es immer wieder Berichte über wohlhabende Menschen, die ärmeren deren von Fair Future zugeteilte Lizenz für die Geburt eines Kindes abkauften. So eine Erlaubnis war unter Umständen übertragbar und auf dem Schwarzmarkt erzielte sie extrem hohe Preise. Wegen der Hoffnung, so eine seltene Chance auf zusätzlichen Nachwuchs zu ergattern, entschied sich kaum jemand für eine Sterilisation. Wer entschloss sich bei einem so langen Leben schon endgültig, den Wunschtraum auf Kinder aufzugeben? Die geltenden Gesetze gestatteten diese oft vergebliche Träumerei, denn sie trug stark zur Lebensqualität der Bürger und wesentlich zur Absicherung der Gesellschaft gegen Krisen bei. Gleichzeitig verlangten die Regeln, dass ungenehmigte Schwangerschaften konsequent, zügig und ohne Protest abgebrochen wurden. In Larissas blauen Augen sah Sibel eine unvorstellbare Qual, große Angst, aber auch Hoffnung.
Als hätte sie Sibels Gedankengang erraten, sagte Larissa: »Es gibt nur noch selten jemand seine Lizenz ab und die Leute bieten dafür horrende Summen, die selbst meine finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Es wünschen sich einfach viel zu viele Paare Nachwuchs …«
Kein Wunder, der Platz auf der Erde war begrenzt und zuerst musste jemand durch Unfälle, unerwartete Krankheiten oder Suizid ums Leben kommen, damit Fair Future neue Lizenzen freigab. Aus guten Gründen hatten sich die Überlebenden der Klimakriege auf eine im Vergleich zu früher niedrige Höchstbevölkerungszahl geeinigt. Noch immer kämpfte die Weltgesellschaft mit den Folgen des Ungleichgewichts, das Überbevölkerung und Raubbau an natürlichen Ressourcen vor Jahrhunderten ausgelöst hatten. Ein deutlich reduzierter Teil der Erdoberfläche taugte noch als Lebensraum und wurde bevorzugt für den Anbau von natürlichen Rohstoffen genutzt. All die verbliebenen Probleme konnte die Menschheit nur global und gemeinsam bewältigen. Spätestens seit Krankheiten wie Krebs und das Alter besiegt worden waren, ließ sich ein striktes Bevölkerungsmanagement nicht mehr vermeiden. Auch wenn es Rebellen gab, die im Untergrund agierten und leidenschaftlich für ein Zurück zur Natur kämpften. NATURAL LIFE war die größte dieser Untergrundorganisationen und auch die, die damals ihrer Mutter geholfen hatte.
Das wäre Larissas zweite Option, überlegte Sibel. Aber zu NATURAL LIFE nahm man nicht einfach Kontakt auf, zu groß war die Gefahr für beide Seiten. Es sei denn, man kannte jemanden, dem die Rebellen vertrauten – so wie Ayana Abebe. Ob Larissa darauf hoffte? Dabei hatte Sibels Mutter schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu NATURAL LIFE, sondern versuchte einfach nur, die ihr verbleibende Lebenszeit möglichst gut zu verbringen. Ob sie für Larissa die alten Bekanntschaften wieder aufleben lassen würde?
Immer noch dröhnte die Musik. Ein Lied endete, das nächste begann.
»Möglicherweise könnte ich für längere Zeit verreisen«, sagte Larissa. Sie klang kein bisschen überzeugt – sie beide wussten genau, wie gut alle Reisewege überwacht wurden. »Danke, dass du mir zugehört hast. Ich wollte dich nicht damit belasten, ich …« Sie brach ab und verzog den Mund zu einem entschuldigenden, traurigen Lächeln, das Sibels Brust enger werden ließ.
Eventuell könnte sie Larissa helfen, dachte Sibel. Nein: Sie konnte ihr helfen, wenn sie ein Risiko dafür einginge. Was wäre sie für eine Freundin, wenn sie es nicht täte? Und mit Larissa würde sie auch ein ungeborenes Leben retten. Sie presste die Lippen aufeinander.
»Vielleicht gibt es ja einen anderen Weg«, sagte sie schließlich unbestimmt. »Aber ich kann dir nichts versprechen.«
Larissa sah sie aufmerksam an. Ihr Blick ruhte warm auf ihr.
»Ach, du bist so ein lieber Mensch!« Larissa sprang auf und umarmte Sibel, die sich sogleich in einen feinen Schleier duftender blonder Haare gehüllt fand. Nachdem sie von ihr abgelassen hatte, kramte Larissa in ihrer modernen Retro-Handtasche. Gleich darauf präsentierte sie ihr ein altmodisches Ultraschallbild, das sie mit ihren Fingern abschirmte, sodass niemand anders einen Blick erhaschen konnte.
»Historische Technik aus der Uni«, raunte sie ihr ins Ohr. »Völlig analog.«
Auf dem Schwarz-Weiß-Bild erkannte Sibel einen dunklen, ovalen Fleck auf hellgrauem, körnigem Grund – Larissas Baby, das abgetrieben werden müsste, wenn sie keinen Ausweg fanden. Der jedoch wäre höchstwahrscheinlich illegal.
Und sonst noch?
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